N°18: Nahtigal

Text: Peter Stamm, Winterthur

Ge­stal­­­tung: Studio Lametta, Luzern
Onething: Martina Caluori, Zürich

Eine Erzählung über das wunderbare Gefühl, sich entscheiden zu können.


 

Appetizer

Diesmal fuhr David absichtlich eine Station zu weit. Immer noch Regen, schrieb er in sein Heft, böiger Wind. Mitten in der Stadt riecht es wie im Wald. Freudige Stimmung, fast feierlich, ohne zu wissen weshalb. Er brauchte einige Zeit, bis er das Mietshaus wieder gefunden hatte. Niemand war zu sehen und David las die Namen auf den Klingelschildern, Marra, Reisacher, Wittwer, Garofalo, Nahtigal. Nahtigal sollte es sein. Und wie hiess sie mit Vornamen? Renata war der erste Name, der ihm einfiel, er hatte keine Ahnung weshalb. Er kannte niemanden, der so hiess. Renata Nahtigal er sagte den Namen ein paar Mal vor sich hin, schrib ihn in sein kleines Heft. Sie hatte gesagt, sie wohne nicht hier. Vielleicht war sie zu Besuch bei ihren Eltern gewesen. David ging die Strasse auf und ab und wartete, aber die Frau tauchte nicht auf. Es hatte wieder zu nieseln angefangen und er stellte sich bei dem Haus unter, vor dem er sie getroffen hatte. Du bist ja ganz nass, sagte Renata, du wirst dich noch erkälten. Ihr Vater war in den Ferien oder im Krankenhaus, sie war gekommen, um dden Briefkasten zu leeren, die Pflanzen zu giessen. Du kannst mir helfen, sagte sie, mein Vater hat viele Pflanzen. Sie sassen nebeneinander auf dem Sofa und Renata zeigte ihm Fotos aus ihrer Kindheit. Sie sassen dicht beieinander und Renatas eine Hand, mit der sie das Album hielt, lag auf Davids Oberschenkel. Du musst aufpassen, dass du dich nicht erkältest, sagte sie. Warst du schon einmal an der Côte d'Azur?, fragte David.

Auszug aus NAHTIGAL von Peter Stamm


One­page Aus­gabe N°18

CHF 10.00

594 x 840mm (offen)
280 x 198 mm (gesch­los­sen)

Offsetdruck @BVD Druck+Verlag AG, Schaan
 

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