N°2: Die Nullzins-Kultur
Text: Hannes Grassegger, Zürich
Gestaltung: Metahaven, Amsterdam
Lyrik: Michael Donhauser, Wien
Könnte es sein, dass uns etwas anderes bevorsteht, als die von den Technologiepropheten aus dem Silicon Valley angekündigte goldene Zukunft?
Appetizer
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TEIL 1: JETZT
24 Tabs offen auf Deinem Browser, drei Chatkanäle, Kopfhörer im Ohr, was essen, Mail verfassen und gleichzeitig Urlaubsbilder posten. Facebook im Gehen, ständig am Arbeiten und doch zu nichts kommen. Mit dem Smartphone auf der Party. Kaltes Licht im Gesicht, Zero Interest. Das ist Nullzins. Von Liechtenstein über Brüssel bis Tokio. Die Herrscher des Geldes , in ihren Festungen der Vernunft, an den Rockzipfeln die verängstigten Regierungen, haben es längst beschlossen. Die Zentralbanken haben die Zinsen gesenkt auf Null, oder sogar leicht darunter. Nullzins, das ist eine neue Welt. Solange es den Kapitalismus gibt, wurde Geld von alleine mehr. Kapital, Kapitalzinsen und Zinseszins. Dass Schulden anstiegen, nur wegen des Zinses – das ist, was das Kapital für viele zum Gespenst machte: Es bewegte sich von alleine. Gläubigern verlieh der Zins die Kraft und Schuldner trieb er vor sich her. Nullzins lässt daher die Gegner des Kapitalismus jubeln. Das ist krasser als ein paar leere Regale im Supermarkt in Venezuela. Nur hat das ausserhalb der Finanzwelt noch niemand verstanden. Der Zins steckt in allem, was ist im Kapitalismus, weil der Wirtschaftskreislauf auf Geld beruht, und das wurde stets verzinst. Jede Unternehmensgründung, jedes Produkt musste mehr abwerfen, als es Zins gibt. Sonst könnte ein Geldgeber, anstatt zu investieren, sein Geld auf die Bank bringen und dort Zinsen kassieren. Wenn es keinen Zins gibt, dann fahren wir heute in den Urlaub statt zur Bank. Die Welt bewegt sich so schnell wie der Zins es will.
Auszug aus DIE NULLZINS-KULTUR UND DER KOMMENDE KRIEG von Hannes Grassegger
Hannes Grassegger
Hannes Grassegger, geboren 1980, ist Ökonom und investigativer Reporter für Das Magazin des Tages-Anzeigers. Seine Texte über das Leben im Digitalen Kapitalismus erscheinen unter anderem in The Guardian, der ZEIT, VICE und der NZZ. Zuletzt sorgten seine Enthüllungsgeschichten über Cambridge Analytica (gemeinsam mit Mikael Krogerus) und Facebooks geheime Löschzentren (gemeinsam mit Till Krause und Julia Angwin) weltweit für Aufsehen. Hannes Grassegger lebt in Zürich.
Michael Donhauser
Michael Donhauser, geboren 1956 in Vaduz/Liechtenstein, lebt als Lyriker und Schriftsteller in Wien. Sein Studium der Germanistik und Romanistik in Wien schloss er 1983 mit einer Arbeit zu den deutschen Übersetzungen von Charles Baudelaires «Fleurs du Mal» ab. Seit 1986 Veröffentlichung von Prosagedichten sowie Erzählungen und einem Roman; nach 1996 zudem essayistische Arbeiten unter anderem zur Poetik in Werken der Literatur und Kunst. Gelegentlich Übersetzungen aus dem Französischen (Arthur Rimbaud, Francis Ponge). Michael Donhausers literarisches Werk wurde durch eine Reihe von Auszeichnungen geehrt, zuletzt durch den Georg-Trakl-Preis für Lyrik.
Zu seinen jüngst erschienenen Werken gehören: Schönste Lieder (Urs Engeler Editor 2007); Edgar und die anderen (Urs Engeler Editor 2008); Nahe der Neige (Urs Engeler Editor 2009) Variationen in Prosa (Matthes & Seitz Berlin 2013; Obstbaumland. Mit 3 Radierungen von Claudia Berg (Edition Böttger 2014).
Metahaven
Metahaven is a studio for design and research based in Amsterdam, founded in 2006 by Daniel van der Velden and Vinca Kruk. Much of Metahaven‘s early visual work and writing is combined in the book Uncorporate Identity (Lars Müller Publishers, 2010), featuring contributions from Boris Groys, China Miéville, Keller Easterling, David Grewal, and others. Metahaven‘s solo exhibitions include Affiche Frontiére (CAPC musée d‘art contemporain de Bordeaux, 2008) and Stadtstaat (Künstlerhaus Stuttgart and Casco Utrecht, 2009). They have exhibited at Forms of Inquiry (Architectural Association, London, 2007, cat.), On Purpose—Design Concepts (Arnolfini, Bristol, 2008), Manifesta8—The European Biennial for Contemporary Art (Murcia, Spain, 2010, cat.), and Graphic Design Worlds (Triennale Design Museum, Milan, 2011, cat.). Daniel van der Velden is a senior critic in graphic design at Yale University, New Haven, and he teaches at the Sandberg Institute in Amsterdam. Vinca Kruk is a tutor of editorial design at ArtEZ Academy in Arnhem, and she teaches design at Otis College of Art and Design, Los Angeles.
Quelle: designgeopolitics.org
Foto: Roger Cremers / De Groene Amsterdammer