N°39: some snow standing
Erzählung: Tabea Steiner, Zürich
Gedicht: Nico Bleutge, Berlin
Grafik: Pauline Koch & Beat Keusch, Basel
Ein Jahr der ungeheuerlich schönen Jahreszeiten. Ein Text der vom Schnee und vom Schweigen erzählt, von umstürzenden Bäumen, von einem Lieblingswald und seinen Tieren und von Freundschaft. Eine Erzählung mitten aus dem Leben.
Appetizer
some snow standing
Meine Füsse wurden kalt, nass war es auch, es schneite noch immer, dünn, aber es schneite. Der Mann telefonierte hin und her, auch noch, als der erste Wagen von Grün Stadt Zürich angefahren kam. Es brauchte mich nicht, und ich stieg die Treppen hoch in die Wohnung. Ich öffnete im Internet das Fenster zum Baumkataster der Stadt. Es war eine rotblühende Rosskastanie, die da vor unserem Haus lag, die zweitletzte im Quartier. Ein ganzes Jahr lang hatte ich fast jeden Tag an diesem Tisch gearbeitet, in diesen Baum hineingeschaut, beobachtet, wie im Frühjahr die Blätter wuchsen, grünten und schliesslich die Sicht in den Park versperrten, hatte festgestellt, dass die Blüten zuerst bräunlich und beinahe krank erschienen, und dann rosarot aufblühten, in üppigen, aufrechten Krönchen, sogenannten Kätzchen. Und ich hatte zugeschaut, wie die Blätter und Blüten den Vogelnestern nach und nach mehr Schutz boten. Ich hatte nicht bemerkt, wie krank der Baum gewesen sein muss.
Auszug aus der Erzählung some snow standing von Tabea Steiner
Tabea Steiner
Tabea Steiner, Jahrgang 1981, hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und Mitglied der Autorinnengruppe RAUF und lebt in Zürich. Mit ihrem ersten Roman Balg war sie 2019 für den Schweizer Buchpreis nominiert und Stipendiatin am Literarischen Colloquium Berlin. 2020 erhält sie den Werkbeitrag der Stiftung Landis & Gyr und ist 2021 Styrian Artist in Residence in Graz. Ihr zweiter Roman Immer zwei und zwei erschien im Frühjahr 2023 in der edition Bücherlese, und ihre Essays kamen 2022 unter dem Titel Provinces in englischer Übersetzung heraus und erscheinen im Herbst 2024 auf deutsch.
BKVK Basel
Beat Keusch führt seit 1992 das Grafik Design Studio BKVK in Basel. Davor war er, nach seiner Ausbildung zum Grafiker, in den Basler Agenturen GGK und Stalder & Suter tätig. BKVK prägt die Visual Identity der Christoph Merian Stiftung, kreierte die fünfbändige Monografie Peter Zumthor, erfand die Beschriftung der Klinik REHAB Basel und gestaltete die Website von Martin Suter.
Pauline Koch hat nach ihrem Studium der Visuellen Kommunikation an der HSLU Praktika in Studios in Zürich und Bern absolviert und arbeitet nun im Grafik Design Studio BKVK in Basel in allen Bereichen der visuellen Kommunikation. Ihre Gestaltung der 39. Ausgabe von Onepage gibt der Erzählung «some snow standing» von Tabea Steiner eine adäquate Form. Die Typografie visualisiert das Fliessen des Textes, das Springen von einem Gedanken zum nächsten, und die Farben evozieren das Silber des Winters.
Nico Bleutge
Nico Bleutge, geboren am 13. Oktober 1972 in München, wuchs in Pfaffenhofen an der Ilm auf. Er studierte von 1993 bis 1998 Neuere Deutsche Literatur, Allgemeine Rhetorik und Philosophie in Tübingen. Heute lebt er in Berlin. Bleutge arbeitet seit 2001 für zahlreiche Tageszeitungen – darunter die Süddeutsche Zeitung und den Tagesspiegel – als freier Literaturkritiker. Seine Gedichte werden zunächst in diversen Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht.
Im Jahr 2006 erscheint sein erster eigener Gedichtband «klare konturen». Es folgen die Bände «fallstreifen» (2008), «verdecktes gelände» (2013), «nachts leuchten die schiffe» (2017) und «schlafbaum-variationen» (2023). Neben Gedichten veröffentlichte Bleutge auch Essays über Dichtung und Dichterkolleginnen und -kollegen, u. a. «Drei Fliegen. Über Gedichte» (2020). Bleutge wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Erich Fried-Preis (2012), dem Alfred-Kerr-Preis (2016) und dem Kranichsteiner Literaturpreis (2017). Im Juli 2023 wurde Nico Bleutge mit dem Jean-Paul-Preis für sein Gesamtwerk gewürdigt.