N°36: ZWEI METER REICHEN
Erzählung: Matthias Jügler, Leipzig
Gedicht: Samira El-Maawi, Zürich
Gestaltung: Anna Haas, Fribourg
Im September 2005 sitzt er auf einem Boot und weiss, dass er sterben wird. Eine Erzählung, in der es um mehr geht als «nur» das Angeln.
Appetizer
ZWEI METER REICHEN
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Zu begreifen, wie nah ich dem Felsen inzwischen bin, und dass ich unaufhaltsam mit einem enormen Tempo auf ihn zusteuere, lässt mich nicht zittern, lässt meine Knie nicht weich werden, lässt mich nicht in Panik über Bord springen, im Gegenteil: Ich erstarre, fühle nichts bis auf das pulsierende, klamme Gefühl, dass dies das Ende sein wird. Ich versuche mich zu erinnern. An das, was Arvid mir gesagt hat: Choke drücken, Leerlauf, am Starterseil ziehen. Ich hämmere mit meiner Hand auf den Choke. Ziehe am Seil, dass ich es fast zerreisse. Suche nach dem Irgendwas – finde nichts. Die Wellen. Der Wind. Ich sehe den Seetang, getragen von der Brandung heben sich Blätter, senken sich. In diesem Moment gebe ich auf. Die Fische sollen zu mir kommen – und nicht ich zu ihnen. Dorsch, Pollack, Köhler, Leng und Makrele, selten ein Rotbarsch.
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Auszug aus ZWEI METER REICHEN von Matthias Jügler, Leipzig.
Matthias Jügler
Matthias Jügler, geboren 1984 in Halle/Saale, studierte u.a. Skandinavistik in Greifswald und Oslo sowie Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Er ist der Herausgeber der Anthologien Wie wir leben wollen. Texte für Solidarität und Freiheit (Suhrkamp, 2016) und WIR. GESTERN. HEUTE. HIER. (Piper, 2020). Matthias Jügler arbeitet auch journalistisch und als freier Lektor. Der Roman Die Verlassenen stieß in der Presse auf große Begeisterung. 2022 war Matthias Writer in residence in Reykjavík/Island und erhielt den Klopstock-Preis für neue Literatur. Im Jahr 2023 ist er Stadtschreiber von Halle.
Er arbeitet zurzeit an seinem dritten Roman.
Foto © Privat
Anna Haas
Anna Haas ist visuelle Gestalterin und führt seit 2011 ihr eigenes Studio. Sie studierte Illustration an der HSLU in Luzern und Grafik am Werkplaats Typografie in Arnhem (NL). Ihr multidisziplinäres Studio befasst sich mit Aufträgen im Bereich von Buchgestaltung, Plakatdesign, Webauftritte, visuelle Identitäten, Ausstellungsdesign und Illustrationen für diverse Magazine im In- und Ausland. Immer ausgehend von Inhalt und Thema des Auftrags, ist sie auf der Suche nach neuen Formen und visuellen Lösungen. Dabei liegt das Interesse in der Frage, wie Bilder gelesen und verstanden werden und wie die grafische Gestaltung auf den Inhalt und dessen Wahrnehmung Einfluss nimmt. Ihre Arbeiten wurden u.a. mit dem «Swiss Design Award», im Wettbewerb «Die Schönsten Schweizer Bücher» und «100 besten Plakate» ausgezeichnet und zweimal in Folge an der Internationalen Design Biennale Brno (CZ) gezeigt. 2016 erhieltsie den «Grand Prix of the 27th International Biennial of GraphicDesign Brno». Anna Haas ist Mitbegründerin des Vereins Illustratoren Schweiz,des Betreibers der gleichnamigen Plattform.Seit 2014 unterrichtet sie an der HSLU (Luzern) Visuelle Kommunikation.
Foto © Mara Truog
Samira El-Maawi
Samira El-Maawi arbeitet selbstständig als Autorin, Schreibcoach und Beraterin. Verschiedene Interessen, Gegebenheiten und berufliche Stationen führten sie zu diesem Weg: Die äussere gesellschaftliche Entwicklung, wie auch die innere persönliche Entwicklung interessieren sie. Mit beidem setzt sie sich auseinander. Als Schweizerin of color, aufgewachsen im Kanton Zürich in einer binationalen Familie weiss sie, wie wichtig es ist, dass man sich zugehörig fühlt, einen Platz in der Gesellschaft hat und die eigene Identität stärkt. Als Autorin schreibt sie um Zusammenhänge sichtbar zu machen, um Kontexte und vielfältige Figuren zu schaffen, um Poesie zu formen und die Welt besser zu verstehen. Ihre Arbeit als Autorin wurde mit diversen Förderbeiträgen ausgezeichnet. Nach ihrem ersten Roman «In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel» (Zytglogge), arbeitet sie derzeit an ihrem zweiten Buchprojekt. Seit 2020 moderiert sie in Co-Moderation mit Andrea Zwicknagel die Textwerkstatt im «Recovery College Bern».
Foto © Eva Linder